Falsche Papiere können Leben retten
Adolfo Kaminsky erzählt die politischen Konflikte des 20. Jahrhunderts
aus der Sicht eines Meisterfälschers:
»Wach bleiben, so lange wie
möglich. Die Müdigkeit niederringen. Die Rechnung ist einfach: In
einer Stunde kann ich 30 falsche Ausweise herstellen. Wenn ich
eine Stunde schlafe, sterben 30 Menschen …«
Als wir von Adolfo Kaminsky zum ersten Mal lasen, waren wir wie
elektrisiert. Aus dem Nichts, aus altem Papier, zusammengesuchten
Farben und selbsthergestellten Chemikalien soll er Pässe hergestellt haben, und damit Tausenden von Menschen das Leben gerettet?
Kann man so genial sein? Kann man so klug und vorsichtig
sein, während der vielen Jahre nie einen Fehler zu machen, niemals
aufzufliegen? Kann man so couragiert sein, sein Leben zu riskieren,
wenn man, einen Koffer voller falscher Pässe unterm Arm, die
Adressen von Menschen in Gefahr aufsucht, die man vorher auswendig
gelernt hat? Kann man so unbestechlich sein, niemals Geld zu nehmen, aber dafür unabhängig und frei zu bleiben?
Kann man tatsächlich im Schlaf auf die Formel für das Papier des
Schweizer Passes kommen? Kann man so verrückt sein, die Liebesbeziehungen
scheitern zu lassen, weil man ja nicht erzählen kann, dass man Nachts nicht zu anderen Frauen, sondern ins Labor geht, um illegal Pässe zu fälschen? Kann
man so entschlossen und engagiert sein, für die Gerechtigkeit, die
Freiheit, das Leben zu kämpfen?
Seit wir Adolfo Kaminskys Geschichte kennengelernt haben,
lautet die Antwort auf alle diese Fragen: Ja. Man kann.
1943 beginnt Adolfo Kaminsky, für die französische Résistance
gefälschte Papiere herzustellen – Ausweise, die Tausende von Juden
vor Deportation und sicherem Tod bewahrten. Der siebzehnjährige
Färberlehrling und geniale Autodidakt, der selbst aus einer russischstämmigen
jüdischen Familie kommt, weiß damals noch nicht, dass er eine Lebensentscheidung getroffen hat. Denn auch nach dem Krieg wird Kaminsky 30 Jahre seines Lebens im Untergrund verbringen und die großen Widerstandsbewegungen des 20. Jahrhunderts mit falschen Papieren
und Identitäten versorgen, immer auf der Flucht vor der Entdeckung, gehetzt von seinem Gewissen – und ohne je Geld für seine Arbeit zu nehmen. Vom
Algerienkrieg und den südamerikanischen Befreiungsbewegungen
bis zu den Aufständen gegen Diktatoren wie Salazar, Franco,
die griechischen Obristen und der südafrikanischen Anti-Apartheidsbewegung: Kaminsky hat sie, aus Überzeugung und mit technisch
immer ausgefeilteren Methoden, alle mit falschen Papieren unterstützt.
Heute ist er 87 Jahre alt, lebt in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Eiffelturmes in Paris.
Dank seiner Tochter Sarah, die ihren Vater zum Erzählen gedrängt
hat, ist das Buch Adolfo Kaminsky – ein Fälscherleben entstanden.
Wir haben die beiden nach Berlin eingeladen. Und sie kommen!
Am Donnerstag, (bitte beachten Sie den für Veranstaltungen im
Literaturhotel ungewöhnlichen Wochentag) dem 13. Juni um 20
Uhr werden Adolfo und Sarah Kaminsky im Uwe-Johnson-Salon
des Literaturhotels lesen und erzählen.
Angela Spizig, die Bürgermeisterin von Köln, wird moderieren
und übersetzen. Auch werden Textstellen aus dem Buch von Isabelle
Moog, Linda Moog und Wiebke Rennert auf Deutsch gelesen.
Die Veranstaltung wird am Samstag, dem 15. Juni wiederholt
und dann im Jüdischen Museum Berlin stattfinden. Sie sind herzlich
eingeladen! Voller Freude sehen wir dem Abend entgegen.
Linda und Isabelle Moog vom Literaturhotel Berlin
Textauszug:
PARIS, JANUAR 1944. Am Eingang der Metrostation Saint-Germain-des-Préangekommen, laufe ich rasch die Treppen hinunter. Ich muss in den Osten von Paris, zum Père Lachaise. Ich nehme einen Notsitz, abseits der anderen Fahrgäste. Ich habe etwas Kostbares in meiner Aktentasche, die ich an mich presse. Ich zähle die Stationen, die vorbeifliegen. République, nur noch drei. Da höre ich Lärm und Stimmen aus dem nächsten Wagen. Die Metro pfeift seit einigen Sekunden, doch die Türen schließen sich nicht. Statt der Stimmen nun das Geräusch von Schritten, laut, abgehackt, sehr charakteristisch. Ich erkenne sie sofort. Ein brennender Schmerz steigt in mir auf, und in dem Moment platzt ein Trupp Milizionäre mit gut sichtbaren Armbinden und Baskenmützen auf den Schädeln mit den kahl rasierten Nacken in den Waggon. Sie geben dem Fahrer ein Zeichen, die Türen schließen sich. »Ausweiskontrolle! Alle werden durchsucht!« Ich drehe mich nicht zu ihnen um. Ganz hinten im Wagen warte ich ab, bis ich an der Reihe bin. Ich bin längst an Polizeikontrollen gewöhnt, aber heute habe ich Angst.
Ruhe bewahren, meine Aufregung verstecken, damit sie mich nicht verrät, nicht heute, nicht jetzt. Mein Bein daran hindern, den imaginären Takt einer entfesselten Musik zu schlagen. Diesen Schweißtropfen daran hindern, mir auf die Stirn zu treten. Den Blutandrang in den Adern aufhalten. Den Herzschlag verlangsamen. Ruhig atmen. Die Furcht unterdrücken. Die Angst verbergen. Stoisch sein. Alles ist gut. Ich muss eine Mission erfüllen. Nichts ist unmöglich. Direkt hinter mir werden Papiere inspiziert, Taschen durchwühlt. Bei der nächsten Station muss ich aussteigen. Vor jeder Tür hat sich ein Milizionär postiert. Es ist klar, dass ich keinerlei Chance habe, der Kontrolle zu entgehen. Also stehe ich von mir aus auf und gehe selbstsicher auf den Milizionär zu, der zu mir unterwegs ist, wobei ich ihm durch Handzeichen zu verstehen gebe, dass ich gleich aussteigen muss. Er beginnt laut die Angaben auf meinem Ausweis zu lesen: »Julien Keller, siebzehn Jahre, Färber, geboren in Ain, Departement Creuse …« Er dreht und wendet den Ausweis, prüft ihn von allen Seiten, dazwischen hebt er öfter ruckartig seine misstrauischen kleinen Augen, um meine Reaktion zu belauern. Ich weiß, dass er meine Angst nicht erraten kann, ich wirke gelassen. Ich bin auch ganz sicher, dass meine Papiere in Ordnung sind. Schließlich habe ich sie selbst fabriziert. »Papiere in Ordnung …Keller –Elsässer?« »Ja.«
»Und da? Was haben Sie da drin?«
Genau das hatte ich vermeiden wollen. Der Milizionär zeigt auf die Aktentasche, deren Griff ich nervös umklammere. Einen Moment glaube ich, der Boden tue sich unter mir auf. Am liebsten würde ich die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Aber jeder Fluchtversuch wäre sinnlos. Ein Panikanfall lässt mir das Blut gefrieren. Ich muss improvisieren, und zwar schnell. Ein erstauntes Gesicht machen, so dumm wie möglich.
»Ist er taub? Was ist da drin?«, fragt der Milizionär lauter.
»Mein Vesperbrot. Wollen Sie sehen?«
Gesagt, getan, ich mache die Aktentasche auf. Kein Problem, es ist durchaus ein Vesperbrot drin. Wenn es nur groß genug ist, um das zu verdecken, was ich um jeden Preis verbergen muss! Nach sekundenlangem Zögern mustert der Milizionär mich, sucht in meinen Augen nach einer Schwäche. Ich schenke ihm mein einfältigstes Lächeln. Das konnte ich immer, wenn es nötig war: dumm aussehen. Die folgenden Sekunden sind von der Art, die einem wie Stunden vorkommen. Wir sind an der Station Père Lachaise angekommen, und der Zug pfeift, bevor sich die Türen wieder schließen.
»Ist gut, Sie können gehen.«
Ich weiß noch genau, wie schneidend der Wind über die Gräber des Friedhofs pfiff. Ich saß auf einer Bank in einer der Alleen des Père Lachaise, aber ich war nicht zu stillem Gedenken hierher gekommen. Meine Zähne klapperten. Ich zitterte am ganzen Leib. Ich musste aus der Metrostation raus und mich bis zum Friedhof schleppen, um in der Einsamkeit meine Fassung wiederzugewinnen und die unter der äußerlichen Ruhe versteckten Gefühle herauszulassen. Ich nannte das den »retrospektiven Schock«. Die physische Austreibung der verdrängten Erregung. Ich brauchte nur geduldig abzuwarten, bis mein Puls wieder normal war, meine verkrampften Hände sich wieder lockerten. Wie lange habe ich gebraucht? Ich weiß es nicht. Fünf, zehn Minuten vielleicht. Zeit genug, um zu frieren und wieder zu mir zu kommen. Zeit genug, um mich zu erinnern, warum und für wen ich hier war und mich in Gefahr begab, und mir die Dringlichkeit meiner Expedition zu vergegenwärtigen. Diese Dringlichkeit holte mich aus meiner Erstarrung in der lastenden Stille des Friedhofs, ich wusste wieder, dass jede Minute zählte. Keine Zeit für Niedergeschlagenheit und Selbstmitleid, Angst und Entmutigung.
Ich schicke mich an, wieder aufzubrechen. Bevor ich aufstehe, öffne ich vorsichtig meine Aktentasche zu einer letzten Prüfung. Ich hebe das Sandwich hoch. Alles ist da. Mein Schatz. Fünfzig jungfräuliche französische Personalausweise, meine Feder, meine Tinte, meine Stempel und ein Klammergerät.
Adolfo Kaminsky: Ein Fälscherleben
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Kunstmann; 19,90 Euro
3. Auflage (29. August 2011)
ISBN 978-3-88897-731-2
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