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Ein Gespräch mit Axel Reichardt

Seit 2005 immer wieder unser Gast


Herr Reichardt lehnt im Liegestuhl neben dem Quittenbaum; weiße Leinenhose, weißes Sommer-T-Shirt, ein Buch, einen Skizzenblock im Schoß. Der Flieder blüht, und der Quittenbaum, auf einem Beistelltisch stehen zwei Gläser Grauburgunder und ein Krug mit Berliner Leitungswasser, das wir Gänsewein nennen...



Herr Reichardt, Sie sind in der Sarrazinstraße 18, Ecke Elsastraße, zehn Minuten von hier, geboren. Seit fast vierzig Jahren leben Sie in Heidelberg, sind dort als Sänger am Theater engagiert. Wie ist es für Sie, heute bei Ihren Berlinbesuchen durch Friedenau zu gehen?


Großes Lampenfieber, innere Erregung, fast Erschütterung. Ein In die Knie gehen vor den Erinnerungen, bis hin zu regelrechten Angstzuständen, dem Ansturm von Gefühlen nicht gewachsen zu sein, - und dann aber die Gewissheit liebe Frau Moog, dass es ein Hotel gibt, das mich auffängt, mich beschützt vor völligem Zusammenbruch -


Sie sind ein poetischer Mensch!


Sie dürfen nicht vergessen, ich komme vom Theater. Und Poesie ist alles. Vor allem in Friedenau!


Woran erinnern Sie sich?


Als erstes gehe ich natürlich durch die Straßen dort in meinem Wagner-Viertel, schon ein Ritual, und bedaure, dass die Hauseingänge zu den Höfen nicht mehr offen stehen, die die Orte meiner Kindheit waren. Zum Beispiel unser Hof, wo ein Kastanienbaum steht, der zu meiner Kinderzeit gepflanzt wurde, 1945 bei Kriegsende war ich drei Jahre, und der jetzt riesengroß ist, sich aus dem

Hof heraus über die Dächer hinaus gestreckt hat. Und das ist - auch eine Metapher meines Lebens.

Aus dem eher düsteren Hof und verhältnismäßig kleinbürgerlichen Verhältnissen konnte ich mich herausarbeiten in die Welt. Die der Kunst, des Theaters, der Musik, der vielen Reisen - . Friedenau war ja die Wurzel von allem, was mir widerfahren ist, es fing an mit dem Kindergarten in der Goßlerstraße, gegenüber vom Gemeindehaus, Peter und Paul, von evangelischen Schwestern geleitet, in dieser Tracht, die man heute gar nicht mehr kennt. Wo ja auch heute noch ein Kindergarten ist, erst gestern war ich da, bin dort herum getobt. Damals war Friedenau für mich ein wunderbarer

Abenteuerspielplatz, noch in den Ruinen, die Sarrazinstraße war auch zur Hälfte zerstört, wir konnten da die herrlichsten Sachen veranstalten, da fuhren ja gar keine Autos, wir haben in den Bombentrichtern gespielt, dort waren unsere Höhlen. Die abgefallenen Gips-Stuckaturen der hochherrschaftlichen Friedenauer Wohnungen waren die ideale Kreide für uns, man konnte damit

die Straßen vollständig zumalen, es gab die berühmten Kämpfe um diese Kreideverstecke, Depots, wo wir solche Stücke regelrecht horteten, von einem schönen Frauenkopf oder einem Löwen oder einem Pflanzenmotiv, das lag ja da alles rum, Blumenrosetten, Muschelmotive vom Feinsten, alles kaputt, zerkloppt. Da hieß es dann immer, hast du das Kreideversteck von denen gesehen, das wurde dann entdeckt, große Geheimnisse, es gab da regelrechte Schlachten und Eroberungen - .

Aber apropos Stuck, da muss ich an das Trauerspiel denken -


- dass in den Sechzigern die Hausbesitzer vom Senat von Berlin finanziell unterstützt wurden, wenn

sie freiwillig den Stuck von ihren Häusern abgeschlagen haben, das sogenannte Begradigen der Fassaden, - weil die dann angeblich irgendwie leichter zu renovieren waren -


Frevel!! Barbarei! Und dann kam nach der Entdekorierung die sogenannte Nachdekorierung, völlig absurd, weil diese Stuckaturen natürlich ihren ästhetischen und proportionalen Sinn hatten, das Abschlagen hat ja dies alles verdorben und die Häuser verödet. Es gibt da das hervorragende Buch

Die gemordete Stadt von Wolf Jobst Siedler, das zu einer Art Bibel für mich wurde, - da werden diese ganzen Verbrechen dokumentiert. Gottseidank hat noch, fast zu spät, eine Besinnung stattgefunden. Also Friedenau hatte Glück. Da kniet man alle Nase lang nieder; wenn ich an das wunderbare schlossartige Haus denke, wenn man von hier zur S-Bahn Friedenau geht, an dieser Kurve, eine Augenweide. Sie haben ja die schönen Hauseingänge auch in Ihrem Salon, also gottseidank gibt’s davon noch.

Aber nochmal zurück zu meiner Kindheit, die ersten Kirchenlieder wurden in diesem Kindergarten gesungen, die mich heute noch zutiefst berühren, von Paul Gerhard bis sonst wohin, mit einer starken Verbindung zur Kirche zum Guten Hirten. Die ich alle noch in-und-auswendig kenne, meine starke musikalische Prägung ist dort entstanden. Und dann, meine Mutter hat mich alle Ferien immer in irgendwelche kirchlichen Heime geschickt, an der Nordsee, Ostsee, in den Alpen, und von einer dieser Reisen kam ich mit dem wunderbaren Erlebnis zurück, dass eine der Betreuerinnen dort Akkordeon spielte, und das hat mich so begeistert, dass ich meine Mutter so lange löcherte, bis sie mir auch ein Akkordeon kaufte. Eine Art Leihkauf, und ich habe dann Unterricht in der Wiesbadener Straße 85 genommen. Es gab dort ein Studio Mecklenburg, wo ich später auch Klavier lernte bei Herrn Mecklenburg; üben musste ich, weil bei uns in der Wohnung ja gar kein Klavier reinpasste, bei Verwandten in der Feuerbachstraße, da bin ich auch heute wieder vorbei gegangen.

Bei der Frau Mecklenburg, es war ein Ehepaar, das die Schule leitete, nahm ich dann später auch Gesangsunterricht, - eine großartige Gesangspädagogin.


Aber Sie sind ja auch Buchhändler von Beruf -


Mit fünfzehn begann ich eine Lehre im Buchhandel, in der Uhlandstraße, begründet durch meinen Vater, der eine herrliche Bibliothek besaß, mit allen Klassikern der Weltliteratur, die mich ein Leben lang begleiteten. Diese Buchrücken sehe ich noch vor mir, ich wusste genau, wo was stand, viele aus der Büchergilde Gutenberg -. Sie sehen ja hier -


Jack London. Der Ruf der Wildnis, passt, mitten in Berlin - . Wie fein. Die deutsche Erstausgabe - ,

mit so einem feinen Faksimile -


Auf Reisen nehme ich mir immer ein Buch daraus mit, allein es in den Händen zu halten -


Ihr Vater kam nicht aus dem Krieg zurück?


Vermisst, es gibt ein Foto, auf dem er mich 1944 als Zweijährigen auf dem Arm hält, das ist alles, leider habe ich keinerlei Erinnerungen. - Aber noch einmal zu meiner Ausbildung, ich nahm also dreimal in der Woche Gesangsunterricht, das bedeutete jedesmal von der Uhlandstraße, wo die Buchhändler-Ausbildung war, mit dem Fahrrad in die Wiesbadener Straße zum Singen. Dazu noch der Zeichen- und Malunterricht in der Volkshochschule Schöneberg, wo jetzt der Rias ist, zweimal in der Woche, und noch dazu Italienisch-Unterricht, also wie dieser Junge das damals geschafft hat, - irgendwie Visionen, eine große Liebe zu allem trieb mich an.


Ihre Mutter konnte das finanzieren?


Da halfen auch Verwandte, aber es stimmt schon, meine Mutter verdiente unseren Lebensunterhalt; am Walter Schreiber Platz, Ecke Bornstraße, wo das Kaufhaus HELD war, inzwischen eingerissen, da hat meine Mutter in der Modewarenabteilung gearbeitet, todschick immer, von den Kunden geliebt - . Also eine Kindheit und Jugend, hoffnungsfroh, von wunderbaren Lehrern begleitet - . Nicht zu vergessen: Meine Leidenschaft gehörte ja dem Zeichnen, und diese Lehrerin, die in der Volkshochschule tätig war, sagte eines Tages zu mir: Sie müssen in die Grafik gehen! Sonntags bei ihr zuhause bei Kaffee und Kuchen wurden die Arbeiten in meiner Mappe dann immer korrigiert, wurden Tips gegeben, und – stellen Sie sich vor, es kam die Meisterschule für Grafik und

Buchdruck am Grazer Platz an der Nathanael-Kirche. Es gab eine Aufnahmeprüfung und die haben mich genommen! Von der Pike auf hab ich dort Zeichen gelernt, Ziel Illustrator, Grafiker, Werbegrafiker. Nebenbei aber immer noch das Gesangsstudium.

Alles abgeschlossen. Die Lehre als Buchhändler, das Grafikstudium. Ich war der glücklichste Mensch der Welt, ich lebte dann inzwischen schon allein in einem kleinen Bäckerladen in Lichterfelde, während des Studiums -


Wie tüchtig -


Naja. Dann kam der Moment, wo ich entscheiden musste, die Musik oder die Grafik, es lief ja alles parallel, ich hatte sogar für einen Verlag schon grafisch gearbeitet. Und tollkühn wie ich war machte ich die Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik in der Hardenbergstraße, Fachbereich Gesang. Ich hatte ein gewisses Selbstbewusstsein, mit der Bildnis-Arie aus der Zauberflöte trat ich auf, und wurde zu meinem aller größten Erstaunen genommen.

Es begann das wirklich beglückende Musikstudium, dazwischen aber auch immer wieder zeichnerische Phasen, es gab da einen Professor Taubert, der historische Tänze unterrichtete und zu der Zeit ein Buch über Tanz herausgab. Und dafür fertigte ich diese Tanz- Zeichnungen an, also immer alles zusammen.

Und jetzt kommt das Beste: Gegen Ende des Musikstudiums begann eine Vorsinge-Phase an ganz verschiedenen Theatern in Deutschland, unter anderem auch in Heidelberg, und wider Erwarten, ich konnte es nicht begreifen: Ich wurde engagiert. Mir wird schwindlig, wenn ich Ihnen das alles erzähle, mit dem Franz aus Hoffmanns Erzählungen trat ich dort an, so ne groteske Gestalt mit einem Besen in der Hand, und habe wohl damit überzeugt. Und seitdem lebe ich in Heidelberg, seit 1972.


Was hat sich in Friedenau verändert?


Viel. Es ist südländischer geworden, mediterraner, mehr grün, die Höfe alle voll schöner Gewächse, zu stillen Gärten mutiert, damals gabs auch hier noch viele solche tristen, grauen Höfe, wie heute vielleicht noch in Kreuzberg und Wedding. Viele neue kleine Läden, Cafés -, man entdeckt viel Neues, das ist schon eine tolle Wohnqualität hier -


Vor allem auch mit den hohen Bäumen, den Linden, Kastanien, Ahornbäumen überall an den Straßen, die im Sommer alles so schön schattig machen-


Sie sagen es! Allerdings, es gibt auch Wehmütiges, Schmerzvolles: An der Kirche zum Guten Hirten standen diese großen Bäume, die aufgrund dieser verbrecherischen Straßenführung verschwunden sind, der U-förmige Grundriss dieses herrlichen Platzes dort ist durch diese -

Bundesallee heißt sie jetzt, früher glaube ich Kirchstraße, irreversibel zerstört worden. Da standen Kastanien, - Sie können sich das nicht vorstellen! Es ist mehr als traurig, wenn ich sehe, wie brutal Friedenau zerschnitten wurde, durch diese Autobahnen, - am schlimmsten hat finde ich der Friedrich-Wilhelm-Platz gelitten. Der besaß diese große, wunderbare Symmetrie - . Was ja hier so

beglückend ist, wenn man das Friedenauer Straßenbild, den Plan sieht: Mit wieviel Verstand, wie sinnenreich dieses Viertel angelegt wurde, man möchte den heutigen Stadtarchitekten sagen: Geht nach Friedenau und lernt dort, wie man gekonnt, menschenfreundlich auf dem Reißbrett ein Stadtviertel anlegt. Alle die Straßen hier, nicht zu breit, haben das richtige Maß -


Der schöne Rene Sinténis Platz mit den Birken und sternförmigen Straßen, und dem kleinen Pferd -


Rene Síntenis, die Betonung auf der ersten Silbe! - So viele sprechen das falsch aus, und es macht mich jedesmal wahnsinnig. Sie war die Frau von E.R. Weiss, einem großen Schriftkünstler -


Der Berliner Bär, das Wahrzeichen der Filmfestspiele, stammt von ihr -


Ein Schüler von E.R.Weiss war mein Lehrer, Johannes Boehland, sein Grab besuche ich oft, das ist auf dem Waldfriedhof am Hüttenweg – und da kommen wir natürlich zu einem Thema: Die Friedhofsbesuche, der Besuch von Gräbern. Friedenau bedeutet heute für mich natürlich auch die Trauer um alle die Menschen, Freunde, die ich hier kannte und die nicht mehr leben. Und dann

natürlich die ganzen alten, uralten Greise, die ich sehe, Rollator und Co., da denk ich: Das sind deine Spielfreunde, deine Klassenkameraden, mit denen bist du aufgewachsen -


Die schönen Erinnerungen überwiegen?


Aber ja. Friedenau, das war eine so erwartungsfrohe Zeit, wie sie vielleicht jeder zwischen 15 und 25 durchlebt, na, und dass ich hier die Gesangslaufbahn eingeschlagen konnte, kommt mir sogar heute noch wie ein Wunder vor. Parallel habe ich immer gezeichnet, durch die Ausbildung wurde natürlich die Erlebnisfähigkeit des Auges, überhaupt das Sehen geschult, ich sehe ja viel mehr, viel intensiver, konstruktiver als jemand, der sich damit nie beschäftigt hat. Das Zeichnen begleitet mich auf allen Reisen, ich habe Stapel von Skizzenbüchern zuhause. Ich hab etwas hier, das zeige ich Ihnen mal. Apropos. Ihr Gästebuch muss ich mir ja auch wieder vornehmen -


Sehr schön. Schloss Babelsberg, da waren Sie gestern?


Wunderbar restauriert. Der Park wird noch auf Vordermann gebracht, rundherum ist es im Moment ziemlich wild, aber diese atemberaubenden Blicke aus dem Schloss über das Wasser! Ich meine, diese Wilhelm und Auguste mussten sich doch sooo glücklich dort gefühlt haben, in diesem Park,

dieser Landschaft, also die Preußen wussten schon, wie sie sich einrichten, und sie kannten natürlich auch die richtigen Leute, die ihnen etwas anlegten. Ich hab dann auch noch, nach dieser Ausstellung, bis zur Erschöpfung bestimmte Punkte angepeilt. Der Augustablick, die Fürstenhöhe.

Ich liebe ja Schlösser, mit einem guten Freund, vor einigen Jahren, da gab es kein Schloss hier in der Umgebung, das wir nicht besucht haben. Da könnten wir stundenlang reden -


Wie war es gestern Abend in der Philharmonie?


Eine Enttäuschung. Aber ein Triumph war, dass ich mit diesen leichten Sommerkleidern in der Hitze, die dort drin natürlich stand, richtig angezogen war, das ist ja auch schon mal was. Das Orchester war leider so laut, so dermaßen dominant, dass es die Stimmen irgendwie aufsaugte, teilweise sogar überdeckte. Was leider bei solchen Aufführungen oft der Fall ist. Also die Lieder von Richard Strauss kenne ich natürlich von allen möglichen Aufnahmen, sodass ich mir das, was man nicht hörte, wir saßen auch einfach zu weit weg, irgendwie trotzdem in Erinnerung rufen konnte und ergänzen. Also es war natürlich ganz anständig gesungen. Aber dann kam die Eroica von Beethoven, und die wurde von diesem Dirigenten Ivor Bolten ver- hack -stückt, also bis zur Unkenntlichkeit zerhackt, na schön, man muss bei Beethoven die Kontraste betonen, aber das ist so grauenvoll gewesen. Und ich bin dadurch so beeinflusst worden, dass sich mir aufdrängte, also dass ich zu der Erkenntnis kam: Die Eroica ist nicht meine Lieblingssinfonie! Obwohl dieser Schlusssatz so schön ist, wie ein Tanz - (singt auf taram ta ta.... Teile aus dem Satz; im intergrund das Vogelkonzert im Garten) Aber wissen Sie, die Leute waren so klatschsüchtig, klatschwütig, dass sie trotzdem klatschten -, also es war lauter, begeisterter Beifall. Sodass sie sogar zwischen den Vier Letzten Liedern auch geklatscht haben, sie waren fest entschlossen zu klatschen, bösartig gesprochen: Den Berlinern könn`se vorsetzen, was se wollen, die klatschen sowieso.


Schön wie Sie das erzählen. Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören -


Nein hören Sie auf, jetzt muss ich Ihnen ein Kompliment machen! Ihr Kleid, dieses Altrosa, könnte von einem Kleid von Marie Antoinette stammen, die Farbe ist überwältigend. Dazu diese Perlen, die so raffiniert aufgezogen sind, dass sie den Eindruck des Schwebens erwecken, Sie schweben um Ihren Hals -


Danke -


Elisabeth Vigée Lebrun könnte das festhalten - . Nur sie , kennen Sie diese Malerin?


Die so wunderbar Tücher malen konnte -


Die Lieblingsmalerin von Marie Antoinette! Meiner Lieblingsgestalt in der Geschichte!


Ach -


Weil dieses Schicksal so unvorstellbar ist. Weil eine leichtlebige, glückliche Rokkokofigur aus dem Hof von Schönbrunn - direkt zum Schafott von Paris wanderte. Verkürzt gesagt.

Unvorstellbar, was in diesem kurzen Leben an Extrem-Entwicklungen in dieser jungen Frau vonstatten ging -. Dieser unermesslich reiche Hof, Juwelen im Überfluss, die Feste, Empfänge, die Garderobe, - und dann aber plötzlich merken, als die Weiber aus Paris mit Hacken, Stöcken und allen möglichen landwirtschaftlichen Geräten auf Versaille zu stürmten - , dass es da auch noch ein Volk gab. Die wusste ja gar nicht, über wen sie eigentlich regiert, diese Unvereinbarkeit - . Und dann Angst. Und die Gestalt Axel von Fersens, aus Schweden, der sie sehr geliebt hat und sie retten wollte, und die Flucht organisierte, aber weil man ja so völlig weltfremd war, ist man mit einer viel

zu schweren, auffälligen Kutsche, mit viel zu viel Gepäck, nur bis Varennes gekommen, da wurde sie erkannt, obwohl maskiert, und dann im Triumph des Volkes zurück nach Paris gebracht. Und der arme Sohn, der Louis XVII. geworden wäre, wenn er überlebt hätte, und den man zu Tode quälte.

Also diese Frau, die dann vor Gericht stand, und die des Kindesmissbrauchs und aller möglichen Perversitäten beschuldigt wurde und die graue Haare bekam über Nacht und die dann mit hoch erhobenem Haupt zum Schafott ging und sagte, als sie aus Versehen und in ihrer Verwirrtheit dem

Scharfrichter auf den Fuß trat: Ich hab es nicht mit Absicht getan -


Wahnsinn -


Das kann man wohl sagen. Aber nochmal zu Elisabeth Vigée Lebrun, also ich lege Ihnen diese Malerin ans Herz. Sie wären ein Modell! Sie hat ja die ganz großen Aristokratinnen Europas porträtiert, von Paris bis nach Neapel und St. Petersburg, und auch die preußische Königin Luise.

Und natürlich immer wieder ihre Freundin und Vertraute Marie Antoinette, da gibt es diese berühmten Bilder: Marie Antoinette à la Rose, mit einer Rose in der Hand. Marie Antoinette au Livre. Dann in so einer ländlichen Geschichte - . Also das ist eine so hervorragende Malerin, wie die das sogenannte Inkarnat malen konnte, die Haut, Gesichter. Sie war eine der Schönheit verpflichtete Malerin, die jedes Modell beglückt hat, so schön sah man dann aus. Ich konnte

kürzlich in Paris eine Ausstellung von ihr sehen, zum Glück hab ich mir auch so einen dicken Katalog mitgebracht, der viel Auskunft gibt -


Wieso können Sie das alles nur so gut beschreiben -


Ich war am Theater, Frau Moog. Ich zitiere gern, Sprache ist ja Musik. Der Höhepunkt meiner Schauspiel-Karriere waren die Salzburger Festspiele, als ich unter der Regie von Peter Stein in Antonius und Cleopatra mitwirkte, Edith Clever als Cleopatra und Hans Michael Rehberg als Antonius, da hab ich eine Rolle gespielt im Gefolge von Cleopatra, die Rolle des Mardian, der auf

einer Harfe die Cleopatra begleitet. Ich hab da auch ein extra für diese Aufführung geschriebenes Lied gesungen. Von diesen großen Schauspielern hab ich gelernt, wie man Enthusiasmus, Freude, Begeisterung ausdrücken kann -


Und wir haben eine gemeinsame Liebe, Herr Reichardt. Mörike.


Herr Reichardt zitiert:


In ein freundliches Städtchen tret' ich ein, In den Straßen liegt roter Abendschein...


Das können Sie auswendig -


Aus einem offenen Fenster eben,

Über den reichsten Blumenflor hinweg

hört man Goldglockentöne schweben... Lang hielt ich staunend, lustbeklommen. Wie ich hinaus vor's Tor gekommen, Ich weiß es wahrlich selber nicht. Ach hier, wie liegt die Welt so licht! Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle, Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch: Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle, Ich bin wie trunken, irregeführt - O Muse, du hast mein Herz berührt Mit einem Liebeshauch!


Auf einer Wanderung. Ich bin überwältigt. Wir haben ja von dem Gedicht nur die letzten beiden Zeilen in unserem Schaukasten - .


Das finde ich toll, dass Sie mit Mörike werben, die Idee muss man erstmal haben. Es gibt ja da noch dieses andere Plakat mit dem blauen Zimmer und den Zeilen -


(gemeinsame Rezitation:)


In aller Früh, ach lang vor Tag, Weckt mich mein Herz, an dich zu denken... Lied eines Verliebten.


Das Beglückende an Mörike ist irgendwie, dass er nicht so - pathetisch ist, nicht patriotisch, es ist etwas an ihm, was man einfach liebt, also ich meine so, im Gegensatz zu Hölderlin -


Hölderlin ist für mich so ehern göttlich, so unerreichbar, immer im Höhenflug, ich erreiche ihn nicht. Oder sagen wir mal so, er erreicht mich nicht. Ein Mörike umarmt mich, nimmt mich mit, nimmt mich an der Hand und entführt mich, spricht aus der Seele -


Er beschreibt diese Begebenheiten, Zustände, die man selbst kennt, die irgendwie auch Alltag sind -


Ich kenne die Gedichte aus der sängerischen Perspektive, sie sind ja von Hugo Wolf mit größtem Kunstverstand vertont worden, unter anderem dieses -


Ein Tännlein grünet, wo, Wer weiß! im Walde, Ein Rosenstrauch, wer sagt, In welchem Garten? Sie sind erlesen schon, Denk' es, o Seele, Auf deinem Grab zu wurzeln Und zu wachsen. Zwei schwarze Rößlein weiden Auf der Wiese, Sie kehren heim zur Stadt In [muntern] Sprüngen. Sie werden schrittweis' gehn Mit deiner Leiche; Vielleicht, vielleicht noch eh' An ihren Hufen Das Eisen los wird, Das ich blitzen sehe!


Denk es o Seele. Das geht einem durch und durch, Herr Reichardt! -


So ähnlich ist auch das Gedicht Auf ein altes Bild.

Da geht es so


In grüner Landschaft Sommerflor, Bei kühlem Wasser, Schilf und Rohr...


Warten Sie, ich muss nachdenken...


Schau, wie das Knäblein Sündelos Frei spielet auf der Jungfrau Schoß! Und dort im Walde wonnesam, Ach, grünet schon des Kreuzes Stamm...


… diese Tatsache, dass der Tod uns eben ständig begleitet, immer bei uns weilt -


Kennen Sie das mit der Gartenpforte? Also Mörike erinnert sich da an seinen Garten...


...wär er doch noch mein -


mit dieser alten Pforte, die immer mit der gleiche Melodie knarrt, die er noch im Ohr hat und die sogar als eine Zeile aufgeschrieben ist, als Noten -


Ach- , ist das ein Gedicht? Das müssen Sie mir zeigen, Sie haben ja Mörike hier -


Jetzt müssen wir erst mal was trinken, Herr Reichardt. - Riechen Sie den Flieder?


Naja was denken Sie denn, ich bin schon ganz besoffen davon. Mein Gott! Dieser Garten ist eine Herausforderung vor dem Herrn, Sie dürfen nicht vergessen, ich bin ja ein Geruchsmensch.

Stichwort 4711 -


Was meine Mutter so liebte. Weshalb es immer bei mir auf dem Nachttisch steht -


Ich hab diesmal auch eine kleine Flasche davon dabei, ich lebe von diesen Düften. Hier bei Ihnen, dieser Garten ist ein Gottesgeschenk, da weiss man doch gar nicht, wo man zuerst hin-riechen soll.

Ich bin ja wieder zur Jasminzeit gekommen, auch so eine Erinnerung, früher als Kinder haben wir uns immer mit den Jasminblüten die Nasen gelb gepudert. Friedenau und die Gerüche, das wäre nochmal eine Sitzung für sich. Die Ebereschen, in den Ceciliengärten die japanischen Kirschen, diese Fülle, das nimmt ja gar kein Ende mit dieser Allee dort, die Kastanien, Akazien -


Die Linden -


Na hören Sie auf, das hält man ja dann wirklich nicht aus, wenn die Linden blühen, in den Straßen hier stehn ja lauter Linden, und wenn Sie hier spazieren gehen, da werden Sie doch wahnsinnig, diese süßen Düfte...

Wissen Sie, darum bin ich ja hier auch so glücklich. - Dazu das schöne Biedermeier in Ihrem Salon, hier fehlt mir nichts. Hier blick ich auf nichts, was mich stört, woanders ist das nicht so, da sehen Sie dann auf so eine blöde Lampe, und da liegt ein Tischtuch, türkis, was gar nicht passt, -

also wo finden Sie denn so einen Raum in ganz Berlin? So eine große Lupe gibt’s ja gar nicht, um den zu suchen, – Sie müssen doch viel Bewunderung von Ihren Gästen bekommen, ich kann ja nicht der einzige sein, der hier ständig schwärmt. Zuhause leb ich auch nur im Biedermeier -


Weil Sie die Goethezeit so lieben. Aber es stimmt schon, die schönen Hölzer, die Furniere, wenn die Sonne darauf fällt -


Die Einfachheit, Frau Moog. Die Erfindung der Einfachheit. Sie haben ja in Ihrem Regal dieses wunderbare Buch - . Einfachheit als Programm. Weg mit dem Schnörkel, dem Pomp, dem Schwulst. Schlichtheit und Größe, das eine bedingt durch das andere. Eine Kultur der Harmonie und Erinnerung heißt ein Beitrag in Ihrem dicken Buch. Womit wir auch wieder bei Mörike wären - , mein Gott, da könnten wir stundenlang reden, aber ich muss erstmal -


Womöglich müssen Sie los. Heute Abend haben Sie ja wieder ein Konzert -


Akademie für Alte Musik, Barocke Wassermusiken. Warten Sie mal - .

In der Tat, oh Gott. Ich wollte Ihnen ja noch - , weil wir heute davon sprachen, Sie wissen schon apropos Grübeln, Bereuen, Depressionen - zum Abschluss mein Lieblingsgedicht Gedicht von Theodor Fontane aufsagen.


Tröste dich, die Stunden eilen, und was all dich drücken mag, Auch das Schlimmste kann nicht weilen, und es kommt ein andrer Tag. In dem ew'gen Kommen, Schwinden, wie der Schmerz liegt auch das Glück, Und auch heitre Bilder finden ihren Weg zu dir zurück. Harre, hoffe. Nicht vergebens zählest du der Stunden Schlag Wechsel ist das Los des Lebens, und es kommt ein andrer Tag.



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