Um das Jahr 1880 gewann auch das Bauland in Friedenau an Wert. Durch die Industrialisierung waren auch hier die Bürger zu Wohlstand gelangt, und viele der kleinen, gemütlichen Einfamilienhäuser mit viel Fachwerk wichen prächtigen zwei- und dreistöckigen Villen. Geht man hier durch die schattigen, von Kastanien- , Linden- und Ahornbäumen gesäumten Straßen, drängt sich einem der Gedanke auf, dass damals beim Bau der neuen Prachthäuser ein regelrechter Wettbewerb entbrannte: Um die aufwändigste Fassade, den einfallsreichsten Zaun, den anmutigsten, außergewöhnlichsten Hauseingang. An Stuck, einladenden Torbögen, kunstvoll verzierten Türen wurde nicht gespart. Nicht selten wird der Besucher mit Rosen, Lilien, Weinblättern aus „blühendem Eisen“ an den Eingangstüren empfangen, so kunstvoll, dass es ihm den Atem verschlägt. Mit Säulen und Kapitellen zu beiden Seiten, Mäandern, Ranken aus Muschel-und Blattornamenten. Mit Engeln und Putten, die erhaben, schmunzelnd in einen Eingangsflur, ein Treppenhaus mit Marmorwänden und Marmortreppen geleiten, mit drei Meter hohen, geschliffenen Spiegeln, die sich gegenüber liegen und den Raum ins Unendliche vergrößern und das Licht in breiten, geschliffenen Kanten immer wieder brechen. Mit geschnitzten Geländern, auf deren Läufen man gern mit der Hand entlangfährt, um sie am Ende, quasi zum Abschied, übermütig in den aufgesperrten Rachen eines Drachenkopfes zu stecken. Mit Bleiglas in den in den Fensterscheiben, bunt wie in tausend und einer Nacht. Mit Stuck auch hier, wohin man nur blickt, Rossetten an schwindelerregend hohen Decken, aus deren Mitte sich Kronleuchter herablassen, die ihre Prismen in die äussersten Winkel verstreuen und den Eindruck erwecken, man beträte ein Schloss.
Mit Treppenstufen, nicht selten auch aus Edelhölzern, Parkett, auf denen Teppiche aus rotem Seasal fließen, gehalten von Messingstäben, die rechts und links in Knäufe mit Hunde-, Affen-, Reptilienköpfen auslaufen. Mit Kacheln und Fliesen in orientalischen Mustern, aneinandergereiht wie in einem Kaleidoskop, die auch nach 120 Jahren nichts von ihrer Farbenpracht eingebüsst haben.
Ines Kersting hat die Friedenauer Portale (längst nicht alle, es ist eine kleine Auswahl) auf ihren ausdrucksstarken Fotos aus dem Jahr 2003 festgehalten. Nach ihrem Studium in den Fächern Grafik und Webdesign am Lette-Verein Berlin erwarb sie sich Verdienste beim Aufbau eines kulturellen Netzwerks in Friedenau. Mit ihren beiden Kindern, das Jüngste noch im Wagen, ging sie damals öfter als sonst in Friedenau spazieren. Mit Zeit (wenn nicht grade eins von den Kindern nervte...) zum Schauen, Staunen, Entdecken. Wer konnte sie zählen, die in Sandstein gemeißelten Echsen, Eulen, Füchse und Salamander auf den Rundbögen über den Eingängen? Die Engel, Satyre, Sphinxe auf den Simsen, Balustraden, Remisen? Wer hatte sie damals in Auftrag gegeben, die Schmetterlinge, Libellen auf dem Relief dort oben über dem Säulenportal, zwischen den farbig bemalten Seerosen? Die Muscheln, Füllhörner, all die mit Weinlaub verzierten Säulen?
War es möglich, etwas davon einzufangen? Von der Pracht? Der Schöheit? Dem Einfallsreichtum?
Es ist erstaunlich, auf welche Weise die Fotos von Ines Kersting leben.
Fahrräder lehnen an Zäunen, Efeu klettert Fassaden hinauf, Bäume werfen Schatten, Sträucher ragen ins Bild, spiegeln sich im Bleiglas in den Türen. Manchmal ahnt man es, ist sich sicher: Ines traute ihren Augen nicht!
Eschenstraße 6. Auf Zaunpfeilern stehen sich zwei Kinder gegenüber, ein Junge und ein Mädchen, wie jung? Vier, vielleicht fünf. Barfuß, sie in kurzem Rock, er in kurzer Hose, bieten sie dem Vorbeigehenden ein Ständchen dar: Er spielt Gitarre, greift in die Saiten wie ein Rocker, sie, die Augen voll Freude, Schalk, in den Himmel gerichtet, singt aus voller Kehle! Mit Hingabe hält sie das Notenband auf ihren Händen, als wollte sie es jedem, der vorbeikommt, zum Mitsingen anbieten. So lebendig ist das Schauspiel, dass man glaubt, die übermütige Darbietung bis vor zur Ecke Handjerystraße zu hören.
Und das singende Kinderpaar bietet sich dem Vorbeigehenden in der eher kurzen Straße nicht nur ein-, sondern gleich viermal dar, an den Eingängen Eschenstraße 6, 6A, 7 und 7A!
Sind die Rührung, das Glücksgefühl zu beschreiben, das einen beim Anblick dieser musizierenden Kinder befällt? Viermal der gleiche, das Herz erschütternde Anblick: Zwischen den Füßen des Gitarristen posiert ein Schneck, zwischen denen der Sängerin eine Schildkröte, beides Symbole von Langsamkeit? Dafür, dass es scheint, als stünde die Zeit still in dieser Straße mit den acht Kindern, die hier Gitarre spielen und singen bei Nacht und Tag, Sonne und Regen, Hagel und Schnee, im Schein der Straßenlaternen und beleuchteten Hausnummern, unter dem Filigran der Blätter der Eschenbäume, ja, es wachsen wirklich Eschen rechts und links der Straße. Rosen überwuchern den Jugendstilzaum gegenüber, Rhododendron wächst die Vorgärten zu, einen Katzensprung entfernt befindet sich die Wohnung in der Stubenrauchstraße 47, in der sich am 29. Dezember 1937 die Commedian Harmonists gründeten. Die berühmten Toten auf dem Friedhof in der Stubenrauchstraße (allen voran Busoni, Marlene Dietrich, Helmut Newton), sind sie nah genug, das Dauerkonzert der acht Kinder aus Sandstein zu hören?
Vielleicht war es so: Den Villenbesitzern in Friedenau war es möglich, eine Vielzahl von Figuren, Stuckelementen aus Katalogen zu bestellen. Die mehr ausgeben und es besonders, einmalig wollten, beauftragten Steinmetze und ließen für die Frauenköpfe an ihren Fassaden ihre Ehefrauen und Töchter porträtierten. Und vielleicht hat ja der Besitzer dieser vier Häuser -bis über die Ohren in sie verliebt- hier gleich viermal seine eigenen Kinder verewigt?
Eine Ausstellung mit den Fotos von Ines Kersing "Friedenauer Portale" befindet sich in unserem Hotel.
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