Übersetzung des Artikels Dinner with the FT Svetlana Alexievich (Financial Times Weekend
vom 18. Juni 2017)
Bei Lachs an 'Sauce de Moog' in Berlin spricht die Nobelpreisträgerin mit Guy Chazan über Nostalgie in Bezug auf die Sowjet-Ära, darüber, was es heißt, den Stimmlosen eine Stimme zu geben und über die Gefahren des 'kollektiven Putin'
Spricht man mit Svetlana Alexijewitsch, ist es gar nicht so leicht zu sagen, wer hier eigentlich wen interviewt. Gleich als sie merkt, dass ich Engländer bin, will sie wissen, was ich von der Queen und den ausgefeilten Riten der britischen Monarchie halte. Auch will sie wissen, warum ich Russisch spreche, wo ich studiert habe und wann genau ich in Moskau gelebt habe.
Ich erzähle ihr, dass ich als Reporter dort im Jahr 1991 ankam, im Jahr des Putsch-Versuchs gegen Michail Gorbatschow und des sowjetischen Zusammenbruchs. "Ach, dann wissen Sie ja genau, worüber ich schreibe", sagt sie.
Menschen dazu ermutigen, ihre Lebensgeschichten zu erzählen: So hat Alexijewitsch 2015 den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Es ist das Geheimnis hinter der sogenannten "dokumentarischen Prosa" über sowjetisches Leben, veröffentlicht über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten hinweg, das ihr ihren Namen gemacht hat. Die komplexen Kollagen, gewebt aus Hunderten von Interviews mit einfachen, gewöhnlichen Menschen, die in ungewöhnlichen Zeiten leben, umfasst ein Werk, welches das Nobelpreiskomitee als ein "Denkmal den Leiden und dem Mut unserer Zeit" beschrieb.
Das Gefühl, das ich unter ihrem eindringenden Blick habe, muss sein, wie sich die Menschen in den Interviews gefühlt haben, wenn diese bescheiden daherkommende, 69-jährige Weißrussin mit ihnen gesprochen hat, warum sie ihr Geheimnisse erzählten, die oft Jahrzehnte lang verschlossen gewesen waren, als eine Last oder ein Fleck von Scham.
Es hat etwas zu tun mit ihren weichen Zügen, dem vertraulichen Klang ihrer Stimme und einer Empathie, die man beinahe anfassen kann. Es hat auch etwas zu tun mit ihrer Einfachheit. Gekleidet in einen braunen Woll-Poncho, sieht Alexijewitsch, die gerade dabei war zu bügeln, als das Nobelpreiskomitee anrief, nicht gerade aus wie eine literarische Berühmtheit. Sie lebt immer noch in der engen 50-Quadratmeter Wohnung aus der Sowjet-Zeit in der weißrussischen Hauptstadt Minsk, die seit Jahrzehnten ihr zu Hause ist.
Heute sitzen wir im Frühstücksraum des Berliner Literaturhotel, einem Rückzugsort für Schriftsteller im vornehmen Stadtteil Friedenau, der Raum voll ausstaffiert mit Biedermeier-Möbeln, goldgerahmten Spiegeln und orientalischen Teppichen. Alexijewitsch, die während ihrer häufigen Reisen nach Berlin hier wohnt, hatte anfangs vorgeschlagen, dass wir uns in einem Fisch Restaurant am schicken Kurfürstendamm treffen sollten, aber, nach einem straffen Programm von Lesungen in Bamberg, Lübeck und Hamburg in weniger als einer Woche, ist sie müde.
Die Leiterin des Literaturhotels, Christa Moog, schenkt uns grünen Tee ein und erzählt von Friedenaus illustrem literarischen Erbe. Drei Nobelpreisträger haben hier gewohnt: Günter Grass, die aus Rumänien stammende Herta Müller und Alexijewitsch selbst, die zwei Jahre in Berlin verbrachte, während eines längeren selbst auferlegten Exils in Westeuropa in den 2000er Jahren. Moog entschuldigt sich, sie will ein Abendessen zubereiten: Normalerweise wird kein Essen angeboten, aber sie will eine Ausnahme machen für einen so bedeutenden Gast.
Von der Queen kommen wir zu einem anderen seit langem beschäftigten Machthaber – Vladimir Putin, dessen irgendwie in Gedanken geartete Anwesenheit den ganzen Abend zu überschatten scheint. Alexijewitschs Magnum Opus Secondhand-Zeit (erstmals erschienen 2013, auf russisch) ist ein Versuch zu verstehen, wo Putin herkam und warum er so einen Halt im russischen Volk hat.
Alexijewitsch sträubt sich dagegen, den Präsidenten zu demonisieren. Was ihr mehr Sorgen macht, ist der "kollektive Putin", das jetzt so tief sowohl in Russland als auch in Weißrussland verankerte Gefühl von verletztem Nationalstolz und die weit verbreitete Verachtung liberaler Werte. Sie sagt, dass sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung solche Ansichten vertreten – und das sei eine Herausforderung für die bedrängte Minderheit von pro-westlichen Liberalen, zu denen sie gehöre. „Mit den Behörden im Konflikt zu stehen, ist eine Sache. Wir russischen Schriftsteller haben uns daran gewöhnt “, sagt sie. "Aber mit deinen eigenen Leuten im Konflikt zu stehen – das ist wirklich schrecklich."
Für Alexijewitsch ist es besonders schwer, weil diese Menschen der Quell und der Ursprung ihrer Arbeit sind. Jedes ihrer Bücher ist ein dichter Wandteppich, gewebt aus Begegnungen mit denen, die die epochalen Geschehnisse miterlebt haben, vom Zweiten Weltkrieg bis zur Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Sie ist wie eine Ärztin, die das Narbengewebe einer traumatisierten Nation untersucht – eine gefährliche Unternehmung in einem Land, das damit beschäftigt ist, Erinnerungen an den Gulag in Vergessenheit geraten zu lassen und dessen Präsident den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als die „größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnete.
Literaturhotel
Fregestrasse 68, Berlin
Eggs stuffed with prawns, with pickled mushrooms x 2
Salmon with sauce de Moog, rice and chicory salad x 2
Mango and chocolate x 2
Pinot Grigio x 2
Total (including tax and service) €50
In ihrer Nobelpreisrede vom Dezember 2015 beschrieb Alexijewitsch Russland als einen „Raum der totalen Amnesie“. Ihrer Meinung nach werden die Dinge jetzt noch schlimmer. "Abgeordnete sagen, wir sollten Gorbatschow vor Gericht stellen, ein Solschenizyn-Denkmal wurde zerstört und sie stellen Stalin immer mehr Statuen auf", sagt sie. "Aber es ist nicht Putin, der den Leuten sagt, dass sie das tun sollen – die Initiative kommt aus der Basis der Gesellschaft."
Alexijewitschs Interesse am Leben der einfachen, gewöhnlichen Menschen wurde in der Kindheit geweckt. 1948 als Tochter ländlicher Schullehrer in der ukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk geboren, wuchs sie in einem weißrussischen Dorf auf, dessen Männer im Krieg gestorben waren. Jeden Abend saßen die Frauen auf Bänken und plauderten und die Kinder sogen jedes ihrer Worte auf. "Sie sprachen von Liebe, vom Krieg, von schrecklichen Dingen", sagt sie. "Die Leute haben die ganze Zeit über den Tod gesprochen, und dieser Refrain hat sich in mein Bewusstsein eingebrannt."
Sie dachte darüber nach, Romane zu schreiben, erkannte jedoch schnell, dass echte, menschliche Geschichten kraftvoller waren. "Warum Helden erfinden, wenn die Dinge, die diese Leute sagen, so viel besser sind?", sagt sie.
Sie nennt eine Stelle aus Tschernobyl, ihrem Buch über die Reaktorschmelze vor drei Jahrzehnten, die große Teile der Ukraine und Weißrusslands kontaminierte und Hunderte von Dörfern in beiden Ländern unbewohnbar machte. Darin zitiert sie die Frau eines der Feuerwehrmänner, die geholfen haben, den Brand im Reaktor zu löschen, der dann in ein Moskauer Krankenhaus gebracht wurde, wo er an einer Strahlenvergiftung starb. „Die Ärzte sagten ihr, sie solle sich ihm nicht nähern, ihn küssen, ihn umarmen. Sie sagten ihr: 'Dies ist nicht der Mann, den du liebst, es ist ein kontaminiertes Objekt.' " Der Ausspruch schockierte Alexijewitsch. "Ich dachte – das ist Dostojewski pur."
Alexijewitsch wollte sich auch von herkömmlichen Ansätzen des Geschichtenerzählens lösen. "Es gibt diese Tradition, die bis zu Tacitus und Plutarch zurückreicht und besagt, dass die Geschichte den Helden, den Kaisern, gehört", sagt sie. „Aber ich bin unter einfachen Leuten aufgewachsen und ihre Geschichten haben mich einfach erschüttert. Es war schmerzhaft, dass niemand außer mir ihnen zuhörte. “
Unsere Vorspeise kommt – ein einfaches Gericht aus eingelegten Pilzen und hartgekochten Eiern, gefüllt mit Garnelen. Moog schenkt uns ein Glas Pinot Grigio ein, während sie mit Alexijewitsch in gebrochenem Russisch scherzt – es ist klar, dass die beiden sich nah stehen, trotz der Sprachbarriere. "Wussten Sie, dass Frau Moog auch Schriftstellerin ist?" sagt Alexijewitsch. Später finde ich zwei ihrer Romane, die beide in den 1980er Jahren veröffentlicht wurden, bei Amazon.
Alexijewitschs erstes Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (1985), dessen englische Übersetzung nächsten Monat erscheint, basiert auf Interviews mit weiblichen sowjetischen Überlebenden des Krieges. Alexijewitsch sagt, die weibliche Perspektive sei wichtig gewesen, weil Frauen Krieg niemals als heroisch ansehen. "Für sie ist [es] immer Mord", sagt sie. Ihr Ziel war es, hinter die sowjetischen Klischees der Zeit zu kommen und die Wahrheit über „konkrete Dinge“ heraus zu finden. Als ein Beispiel nennt sie die weiblichen Soldaten, denen nur BHs, Höschen und Tampons zugewiesen wurden, als die Rote Armee die Westgrenze der Sowjetunion überquerte, "damit sie sich nicht vor den Ausländern zeigen sollten".
Die Bücher nehmen sowjetische Mythen auseinander – zum Beispiel den, dass „Krieg schön ist“. "Das ist er nicht, er ist schrecklich", sagt sie. In Zinkjungen (1991) hat sie einen der größten Mythen von allen entlarvt – einen, der sich auf die sowjetische Intervention in Afghanistan in den 1980er Jahren bezieht. Alexijewitsch erinnert sich an die Lieferung von Teddybären an eine Kinderstation in Kabul und ist überrascht, dass ein kleiner Junge das Geschenk mit den Zähnen nimmt: Seine Mutter zieht das Laken zurück und zeigt, dass er weder Arme noch Beine hat. "Das haben Ihre sowjetischen Hitleristen getan", rief die Frau ihr zu.
Es war ein Wendepunkt. "Zurück in der Sowjetunion, sagten alle, wir seien Helden, die dem afghanischen Volk beim Aufbau einer Zukunft helfen." Sie war eine sowjetische Patriotin gewesen, ein loyales Mitglied der Young Communist League. Jetzt war ihr Glaube verschwunden.
Die Hotelchefin unterbricht uns, um den nächsten Gang zu bringen: Lachs in einer Sesamkruste, dazu Reis und Chicorée-Salat, begleitet von „Sauce de Moog“, einer namengebenden Mischung aus Zwiebeln, Birnen, Cranberries und Sahne, abgeschmeckt mit Safran.
Alexijewitsch ist begeistert. "Es ist, als ob Sie bei jemandem zu Hause sind, nicht in einem Hotel."
Während wir uns den Fisch schmecken lassen, erklärt sie ihre Arbeitsweise. Für jedes Buch interviewt sie mehr als tausend Menschen – obwohl letztlich nur etwa 300 ausgewählt werden. Ihr Ziel sei es, sagt sie „die Geschichte der Seele“ zu schreiben. Sie zitiert eine Zeile der Figur Shatov aus Dostojewskis Die Dämonen: „Wir sind zwei Kreaturen, die sich in grenzenloser Unendlichkeit getroffen haben. . . zum letzten Mal auf der Welt. Also lass diesen Tonfall und sprich wie ein Mensch. Sprich einmal in deinem Leben mit einer menschlichen Stimme. “ Es ist nicht überraschend, dass ein Porträt von Dostojewski über ihrem Schreibtisch in Minsk hängt.
Die Menschen, die sie interviewt, sind oft zufällige Begegnungen an öffentlichen Orten – in Restaurants, Bussen, an Flughäfen. "Wir fangen an zu reden und ich lasse mir ihre Telefonnummer geben", sagt sie. Sie sagt, dass sie bei ihren Begegnungen als Journalistin auftritt, aber "es ist nicht wirklich ein Interview – es ist eher ein Gespräch. Du kommst als Freund – wie sie bist du ein Kind deiner Zeit. Und wenn ich nicht ihr Freund wäre, wäre es höchst unwahrscheinlich, dass sie mir die Dinge erzählen, die sie mir erzählen. "
Die Bitterkeit der Menschen, mit denen sie spricht, ist oft auch durchsetzt von einer Nostalgie in Bezug auf eine verlorene sowjetische Idylle und tiefer Enttäuschung über den uneingeschränkten Kapitalismus, der sie ersetzte, als die UdSSR 1991 auseinander fiel. Secondhand-Zeit, ihre umfangreichste Arbeit, wurde von einem Zitat des Künstlers Ilya Kabakow geprägt. "Er sagte: Als es noch die Sowjetunion war, haben wir gegen ein Monster, den Kommunismus, gekämpft und es besiegt", sagt sie. "Aber wir drehten uns um und erkannten, dass wir mit Ratten würden leben müssen."
Dies mag westlichen Lesern als pervers aufstoßen. Wie können die Menschen eine Zuneigung zu einem System empfinden, das den Gulag geschaffen hat? Alexijewitsch sagt, viele übersehen die einzigartige Atmosphäre der späten Sowjetzeit, einer Zeit der Gleichheit, der tiefen Freundschaften und der Liebe zur Literatur. "Trotz der Armut war das Leben freier", sagt sie. "Freunde versammelten sich bei einander zu Hause, spielten Gitarre, sangen, redeten, lasen Gedichte." Als die Demokratie kam, hofften sie, dass die geistige Freiheit, nach der sie sich sehnten, endlich eintreffen würde, „dass jeder frei sein würde, Solschenizyn zu lesen“.
Die Freiheit kam und Solschenizyns Werke wurden alle veröffentlicht – aber in den frühen neunziger Jahren hatte niemand die Zeit oder Energie, sie zu lesen. "Alle rannten einfach an ihnen vorbei und steuerten auf die zwanzig verschiedenen Kekssorten und zehn Wurstsorten zu", sagt sie.
Ich sage ihr, dass es mir besonders schwer gefallen ist, die Aussagen von Menschen zu lesen, die das Weiße Haus verteidigten, das ehemalige russische Parlamentsgebäude, das während des Putschversuchs der Regierungs-Hardliner 1991 zum Symbol des Widerstands wurde. Ich war selbst dort gewesen und erinnerte mich an Gespräche mit trotzigen alten Frauen, die sagten, sie würden lieber unter einem Panzer liegen, als die Kommunisten an die Macht zurückkehren zu lassen. Ihre Hoffnungen auf Freiheit wurden durch das Chaos, die Hyperinflation und das zügellose Verbrechen der folgenden Jelzin-Jahre zerstört, als eine neue Klasse habgieriger Oligarchen das Kommando übernahm.
"Auch ich habe an diesen Demonstrationen Ende der 1980er Jahre teilgenommen", sagt Alexijewitsch. "Niemand, der damals mitdemonstrierte, wollte Abramowitsch", sagt sie und bezieht sich auf den Milliardär des Chelsea-Fußballclubs.
Viele der Intellektuellen ihrer Generation verloren nicht nur ihre Arbeit, ihre Ersparnisse und ihre Ideale: Sie erlebten auch keine Katharsis, da niemand aus dem früheren Regime jemals vor Gericht gestellt wurde. Ich frage sie, ob Russland anders ausgefallen wäre, wenn es einen Prozess gegen die kommunistische Partei gegeben hätte. "Ich war überzeugt, dass es den hätte geben sollen", sagt sie. Aber andere, einschließlich ihres Vaters, eines leidenschaftlichen Kommunisten, waren anderer Meinung. "Er sagte, es hätte zu einem Bürgerkrieg geführt", sagt sie. Es gab also keine Abrechnung mit der sowjetischen Vergangenheit, kein russisches Nürnberg. "Wir haben unsere Chance verpasst", sagt sie.
Frau Moog kommt mit dem Dessert herein – Scheiben von Mango und Bitterschokolade – und wir wenden uns den Ereignissen in der Ukraine zu, dem Land, in dem Alexijewitsch geboren wurde. Sie verurteilt die „Besetzung“ der Krim und sagt, der Westen sollte der Ukraine Waffen geben, um ihr bei der Bekämpfung der von Russland unterstützten Separatisten in Donbass zu helfen. "Diese [ukrainischen] Jungen werden wie Rebhühner nur so abgeschossen", sagt sie.
Dennoch ist sie hoffnungsvoll was die Zukunft der Ukraine angeht – es ist ein Land, das zu Europa gehören will, anders als ihr Heimatland, Weißrussland. "Während ihrer gesamten Geschichte haben die Weißrussen nur überlebt", sagt sie. Russland hat sie immer verdächtigt, mit dem Feind Polen zusammenzuarbeiten, und hat sie immer wieder abgeschlachtet "weil sie im Weg waren". "Also wurde ihre Philosophie, ruhig zu bleiben und sich zu verstecken."
Trotz ihrem gespaltenen Verhältnis zu Weißrussland zog sie vor ein paar Jahren, nach einem elfjährigen Auslandsaufenthalt, zurück. Ihre Eltern waren gestorben und sie wollte ihre Enkelin aufwachsen sehen. Sie war auch weggegangen, um Putin und Alexander Lukaschenko, den autoritären Präsidenten von Weißrussland auszusitzen, erkannte jedoch, dass "die so schnell nirgendwo hingehen". Ihre Beziehung zum weißrussischen Oberhaupt ist angespannt: Als sie den Nobelpreis gewann, beschuldigte er sie, „Eimer voll Dreck über ihr Land zu gießen“. Auch wegen ihrer Arbeit musste sie nach Hause zurückkehren. „Das Genre verlangt das. . . Sie sprechen jeden Tag mit Menschen – Das können Sie nicht über Skype machen. "
Mit dem Nobelpreisgeld kauft sie eine neue Wohnung, dreimal größer als die alte, aber im selben Gebäude. Sie liebt die Lage mit Blick auf den Fluss Svislach und könnte nie wegziehen. Der Nobelpreis hat es ihr auf jeden Fall schwerer gemacht, sich in die Anonymität zurückzuziehen. Kürzlich hatte sie einen Streit mit ihrer neunjährigen Enkelin Yanna in einer Straße in Minsk. "Eine Frau kam zu Yanna und sagte: 'Kleines Mädchen, so kannst du nicht mit deiner Großmutter sprechen – weißt du nicht, wer sie ist?' "
Sie findet es schwierig, in der Öffentlichkeit zu stehen. "Ich liebe es, alleine zu sitzen und nach zu denken, nicht die ganze Zeit fotografiert zu werden", sagt sie. "Ich bin keine öffentliche Person."
Die Zurückhaltung ist auch ein Bestandteil in Alexijewitschs Arbeit, in der die Autorenstimme selten zu hören ist. Es gibt jedoch einige Ausnahmen. In Secondhand-Zeit erzählt sie die Geschichte eines alten Kommunisten, der während Stalins Säuberungen eingesperrt war, aber später rehabilitiert wurde. Nach dem Krieg wird ihm mitgeteilt, dass seine Frau, die mit ihm verhaftet wurde, im Lager gestorben ist. „Sie haben mich in das Komitee der Distriktpartei gerufen. 'Leider können wir Ihnen ihre Frau nicht zurückgeben. Sie ist tot. Aber du kannst deine Ehre zurückbekommen.' Und sie gaben mir meine Parteimitgliedskarte zurück. Und ich war so glücklich! Ich war so glücklich."
In ihrem Buch sagt Alexijewitsch, sie und der Kommunist hätten an dieser Stelle gestritten und er hätte die Beherrschung verloren. Ich frage, was passiert ist. "Ich konnte es nicht fassen, ich war so entsetzt. Ich sagte: 'Ich verstehe dich nicht - alles, was sie dir gaben, war dieses kleine Bisschen.' Und er wurde aggressiv. Er sagte: 'Du wirst es nie verstehen, alles, was dich interessiert, sind Klamotten und dein Bauch. Aber wir hatten große Ideale. Wir waren Menschen des Glaubens.' "
Guy Chazan ist der Financial Times Berlin-Korrespondent
Aus dem Englischen frei übersetzt von Linda Moog
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